2008 und 2009 haben MilcherzeugerInnen mutig und schweren Herzens ihre Milchtanks geöffnet und die extreme Unterbezahlung bei der Milch für die Welt öffentlich gemacht.
Ciney, 16.09.2019 Das ganze Wochenende sowie am heutigen Montag wurde in Frankreich und Belgien mit zahlreichen Veranstaltungen an die großen europäischen Milchlieferstopps vor zehn bzw. elf Jahren erinnert.
Was auch als europäische Milchstreiks in die Geschichte eingegangen ist, hat in der Folge den MilcherzeugerInnen in der EU eine überaus wichtige politische Stimme gegeben. Eine Stimme, die nicht vereinzelt und dünn daherkam, sondern die gebündelt die essentiellen Anliegen sehr vieler europäischer Milchbäuerinnen und Milchbauern deutlich hörbar machte. Eine Stimme, die sicherlich noch nicht sofort alles Notwendige durchsetze, die aber konkrete Vorschläge für ihren Sektor unterbreiten konnte. Und die unter anderem mit dem Einsatz des freiwilligen Lieferverzichts 2016 auch wichtige politische Erfolge verbuchte.
Den Anfang machten an diesem Wochenende in Frankreich Teilnehmer des Streiks von 2009 aus ganz Europa. In einem großangelegten Festival in der Normandie gedachten sie mit Stolz den starken Aktionen vor zehn Jahren. Vorstandsmitglied der französischen Milcherzeugerorganisation APLI und des European Milk Boards (EMB) Boris Gondouin dazu: "An diesem Wochenende sind wir hier in Frankreich, in der Normandie, zum zehnten Jahrestag des Milchstreiks. Das waren magische Momente. Aber es war auch sehr hart und ich wünsche das wirklich niemandem. Aber der Streik war absolut wichtig, und er hat allen – der Politik, den Verbrauchern, den anderen Landwirten – gezeigt, dass wir solidarisch sein können. Und dass, wenn wir mit dem Milchpreis nicht einverstanden sind, wir die Milchanlieferung irgendwann einstellen können, und dies auf europäischer Ebene."
Die europäischen Vertreter der Milcherzeuger reisten im Anschluss weiter zur heutigen großen Aktion 1000 Traktoren ins belgische Ciney. Wie vor 10 Jahren, als 3 Millionen Liter Milch auf die Felder ausgebracht wurden, haben sich auch heute aus ganz Europa die MilcherzeugerInnen mit Traktoren hier versammelt, um gegen die immer noch unfairen, nicht kostendeckenden Milchpreise zu demonstrieren. Hinzu kommen viele Landwirte aus anderen Agrarsektoren, die ebenfalls gegen die unfaire, nicht nachhaltige Agrarpolitik demonstrieren.
Für Erwin Schöpges, EMB-Vorsitzender und belgischer Milcherzeuger, sind die damaligen Streikereignisse ein sehr wichtiger historischer Moment für die MilcherzeugerInnen in Belgien und den anderen Ländern. „Eine einmalige Solidarität zwischen den Milchproduzenten und den Verbrauchern ist damals entstanden. Eine solche Aktion hatte es nie zuvor gegeben und darauf können wir stolz sein.“ Sieta van Keimpema, die EMB-Vizepräsidentin, richtet ergänzend das Wort an die heutige Milcherzeugergeneration: „Schau dir an, was in den letzten 10 bis 20 Jahren auf deinem Betrieb passiert ist. Schau dir dein Einkommen an, die Situation deiner Familie, die Stunden, die du arbeitest, und wie sozial dein Leben noch ist. Wenn du siehst, dass dein Leben nicht besser geworden ist, obwohl du so viel gearbeitet hast, dann schließ dich den Bauern an, die etwas ändern wollen. Und zwar in deinem Interesse, das auch dem Interesse vieler anderer internationaler Bauern entspricht. Miteinander kämpfen ist der einzige Weg zur Besserung und ein Weg gegen das Bauernsterben, das wir seit Jahren sehen. Steh auf, wenn du ein Bauer bist!“
In den vergangenen 11 Jahren sind im Milchsektor sicherlich Schritte getan worden. Aber man sieht auch, was passiert, wenn noch nicht ausreichend reagiert wird: Krasse Preiseinbrüche finden bei der Milch auch nach den Streiks weiter statt. Familienbetriebe verschwinden immer mehr, obwohl sowohl sozialpolitisch als auch klimatechnisch eindeutig klar ist, wie wichtig diese Familienstrukturen sind. Die europäische Milchpolitik braucht unbedingt ein Kriseninstrument wie das Marktverantwortungsprogramm. Ein Instrument, das diese Preiseinbrüche unterbindet, so dass Milchproduktion nicht weiter mit schmerzhaftem Verlustgeschäft gleichgesetzt werden muss. Damit die Landwirtschaft für ihre LandwirtInnen und insbesondere auch die Jugend wieder eine Perspektive bietet. Dafür haben die Milcherzeuger bereits 2008 und 2009 während der Milchstreiks gekämpft und dafür kämpfen sie auch heute entschlossener denn je weiter.
In vielen europäischen Ländern erinnern sich die TeilnehmerInnen der Milchstreiks an die damaligen Ereignisse und ihre Bedeutung für die aktuelle MilcherzeugerInnenbewegung in Europa
Frankreich: Sylvain Louis, Präsident der APLI
2009 ist den MilcherzeugerInnen bewusst geworden, dass ihre Produktion ihr Eigentum ist, dass sie ihre Milch versprühen konnten, um zum Ausdruck zu bringen, dass der Milchpreis unzureichend ist. Für sie entstanden neue Begriffe: Produktionskosten, kostendeckende Preise, angemessene Löhne, Mengenregulierung. Für die folgenden Jahre bedeutete dies, weiterzukämpfen, ohne sich des Sieges sicher zu sein – doch wer gar nicht erst nicht kämpft, hat bereits verloren.
Deutschland: Stefan Mann, BDM-Bundesvorsitzender
Unmöglich scheinendes wurde möglich: Wir erinnern uns alle gerne und mit Stolz an die nun 10 bzw. 11 Jahre zurückliegenden Aktionen von uns milchviehhaltenden Betrieben. Ende Mai 2008 hat unserer damaliger Vorsitzender Romuald Schaber in Freising vor 15.000 gespannt auf das Startsignal wartenden Bäuerinnen und Bauern erklärt, dass er ab sofort seine Milchanlieferung einstellt. Gefolgt sind neun mit beispiellosem Engagement, hohen Emotionen und zunehmender Ratlosigkeit auf Ebene der Molkereiwirtschaft gefüllte Tage. Wir alle sind über uns hinausgewachsen. Schlaf war Mangelware. Neben der Einstellung der Milchanlieferung waren auch die Unterbrechung der Milchströme aus anderen EU-Ländern sehr herausfordernde Aufgaben für die engagierten Kämpferinnen und Kämpfer in allen Landesteilen.
Ein Jahr später, im Herbst 2009, rollte die zweite heiße Phase der Proteste an, dieses Mal nicht von uns in Deutschland angetrieben, sondern von unseren Freunden aus unseren Nachbarländern. Die Bilder wurden noch wuchtiger, denken wir nur an die große Sprühaktion im belgischen Ciney.
Ohne diese heißen Phasen der Milchbauernproteste würde man heute nicht mehr über die Milchproblematik reden. Es gäbe kein Milchpaket, keine Diskussionen um die zukünftige Gestaltung des Milchmarktes, keine Sektoruntersuchung Milch eines Bundeskartellamts, keine wegweisenden Beschlüsse des Agrarausschusses des EU-Parlaments, es würde nicht über eine wirtschaftlich nachhaltige Milchviehhaltung und vieles mehr debattiert.
Was wir in den Jahren 2008/2009 mit Wucht ausgelöst haben, wollen wir weiterführen mit unseren nicht zu widerlegenden Argumenten und einer nicht für möglich gehaltenen Durchhaltekraft. Seien wir aber auch jederzeit bereit, die Wucht von Aktionen in der Öffentlichkeit wieder zu nutzen.
Italien: Roberto Cavaliere, EMB-Vorstandsmitglied und Vorsitzender des italienischen Verbands APL della Pianura Padana
Gemeinsam haben wir für einen fairen Preis gekämpft. Der Milchstreik damals war unsere Antwort auf eine verfehlte europäische Politik. So haben wir unsere Produktion eingestellt, um gerechtere Regeln für den Milchmarkt einzufordern.
Luxemburg: Milcherzeugerverband LDB
Sehr viele luxemburgische Bauern waren sehr motiviert und haben sich dem Streik angeschlossen. Viele haben auf ihren Höfen die Milch weggeschüttet und genau so viele waren mit dem Trecker unterwegs in die Stadt, Milch im Güllefass, und zum Staatsministerium zu Jean-Claude Juncker. Genauso beeindruckend wie die Solidarität unter den Milcherzeugern war die Solidarität der Bevölkerung mit den Milchbauern. Viele waren bereit, ihr Kaufverhalten zu überdenken und bewusster einzukaufen. Das hält in Luxemburg bis heute an: regional, saisonal ist gefragt. Alles in allem wurde vor 10 und 11 Jahren viel bewegt seitens der Milchbauern. Was mich wirklich beeindruckt hat, ist, dass so viele in ganz Europa an einem Strang gezogen haben.
Niederlande: Sieta van Keimpema, EMB-Vizevorsitzende und Vorsitzende des DDB
Der Widerstand der Genossenschaften gegen ihre eigenen Erzeuger war sehr enttäuschend. Doch die Solidarität zwischen den teilnehmenden Erzeugern war beeindruckend!
Österreich: Ernst Halbmayr, Projektleiter A faire Milch
Ich war mit dabei als im Juni 2008 tausende Milchbauern und -bäuerinnen auf einem Feld im deutschen Freising die Worte von Romuald Schaber gehört haben: „Ab morgen werde ich keine Milch mehr liefern“. Am Abend haben wir in Österreich dann eine Vorstandssitzung einberufen und beschlossen, mit sofortiger Wirkung mitzumachen. Für viele war es sicher die emotional aufwühlendste Zeit ihres Milcherzeugerdaseins. Wer selber nicht dabei war, kann sich eigentlich nicht vorstellen, welch spannende Zeit das war. Heute weiß jeder, wie er sich damals verhalten hat und jeder hat seine eigene Geschichte zu.
Schweiz: Werner Locher, Sekretär von BIG-M
Der Milchstreik in Europa war ein großartiger Beweis bäuerlicher Solidarität. Mit den verschiedenen Aktionen ist es uns gelungen, die breite Öffentlichkeit für die Missstände im Milchmarkt zu sensibilisieren. Leider haben sich die Rahmenbedingungen seither nicht wesentlich geändert. Es braucht das EMB auch weiterhin! Wir Schweizer sind stolz, dass wir Teil dieser großartigen europäischen Bewegung EMB sind.
Eine Stimme, die sicher in den Augen vieler MilcherzeugerInnen auch sehr gern noch erfolgreicher hätte sein können.
EMB-Pressemitteilung vom 16. September 2019
Fotos der Aktion in Ciney